Über konzeptionelle Geradlinigkeit und Obsoleszenz #textual #quality #reflection

*english version coming soon

Dieser Text ist eine freie persönliche Reflektion ausgehend von einem „Geldbeutel für den Müll” für 1,10 Euro aus einem “Euroshop”

Mit der konzeptionellen Geradlinigkeit spreche ich das Paradigma an Produkte rein für die Profitsteigerung zu produzieren und einzukaufen, ohne an „das Ende“ des Produktes zu denken. Was soll mit diesem Geldbeutel für 1 Euro aus dem Euroshop passieren, wenn er denn mal nach 3 Monaten nicht mehr zu gebrauchen und kaputt ist? Er landet wohl im Müll und kann auf Grund seiner vielen unterschiedlichen Komponenten nicht oder nur mit sehr viel Aufwand bestimmungsgemäß recycelt werden. Geschweige denn, das Material ist für ein recycling gedacht. Mitarbeiter oder Roboter in einer Müllsortierungsanlage werden sicherlich nicht anfangen die Nähte aufzutrennen und die Einzelteile schön sauber sortieren und recyceln. Nicht mehr zu „Gebrauchen“ ist hier ein Stichwort: Es handelt sich um einen Gebrauchsgegenstand und keinen Verbrauchsgegenstand. Das macht für mich einen großen Unterschied und legt eine gewisse Perversität an den Tag. Wir reden hier nicht von einer Käseverpackung, die ebenfalls für den Müll gemacht ist, sondern von einem Gegenstand, der benutzt, gebraucht und „belastet“ wird. Ich erwarte von einer Käseverpackung keine Lebensdauer von mehreren Jahren. Dies ist ein anderes Thema. Hier sollten und könnten auf einfachste Weise kompostierbare Materialien eingesetzt werden, wenn man den wollen würde. Bei dem Geldbeutel kann es wiederum absurde Signale senden, wenn er für den Kompost entwickelt wäre. Wie verdreht wäre die Vorstellung denn, wenn der Geldbeutel aus bspw. Maisstärke oder einem sonstigen biobasierten und sich zersetzenden Material bestünde? Es würde kommunizieren, dass es okay ist, Gebrauchsgegenstände wegzuwerfen. Man könnte vermuten, dass sich diese „Denke“ unter den KonsumentInnen auch auf andere Produkte überträgt und man es gar nicht mehr differenzieren kann, was denn nun kompostierbar, was recyclebar und was in den Müll kann und soll. Auf der anderen Seite würde es Unternehmen wie bspw. J.E. Schum (Firma hinter dem „Euroshop“) vermutlich zugutekommen, wenn sie fortan diesen Geldbeutel in kompostierbarem Material verkaufen würden. Sie könnten genau bestimmen und damit kalkulieren, wann er anfangen würde sich zu zersetzen. An sich wirkt der Geldbeutel in seinem unbenutzten Zustand recht solide, zumindest während dem und kurz nach dem Kauf. Jedes verwendete Material, bis auf den Reißverschluss, wirkt wie Kunststoff. Im Euroshop Webshop wird vermerkt, dass es sich um Kunstleder handelt. Ich gehe nochmals ein paar Schritte zurück. Wäre dies ein anderer Gebrauchsgegenstand, wie bspw. ein Schuh, eine Tischleuchte oder eine Laptop-Maus, dann würde man bei einem bemerkten Defekt wohl erst einmal versuchen das Produkt zu reparieren, wenn es denn ein hochwertiges wäre. Diesen Umstand finde ich wiederum interessant. Dieser Geldbeutel ist mit dem Ladenpreis von 1,10 € so günstig, dass man an sich nicht mal auf die Idee kommen würde, ihn reparieren zu lassen oder selbst Hand anzulegen. Einfach einen neuen Geldbeutel zu kaufen wäre einfacher und stressfreier. Sicher ist diese Aussage eine recht privilegierte Haltung. Euroshops sind sicherlich für manche Menschen mit wenig Einkommen eine große Hilfe hier und da etwas Geld zu sparen. Doch ist das so? Bleiben wir beim Geldbeutel und rechnen mit 3 Monaten Lebenszeit, bis er im Müll landen wird. Somit müsste man sich im Jahr 4 Geldbeutel kaufen und würde bei 4,40 € jährlich landen. Nur um es mal schnell durchdenken zu können und keinen großangelegten Produktvergleich anzufangen, gehe ich nun mal davon aus, dass gut verarbeiteter Geldbeutel aus robustem Material wohl doch schon für ca. 25 Euro zu haben ist, von dem man eine Lebenserwartung von ca. 6 Jahren und mehr erwarten könnte. Um auf 6 Jahre Lebensdauer mit dem Geldbeutel aus dem Euroshop zu kommen, müsste man 26,40 € bezahlen und hätte 38 Geldbeutel kaufen müssen. Das Problem sehe ich hier darin, dass man 38 mal Müll produziert, der höchstwahrscheinlich nicht recycelt und verbrannt wird.

Ich könnte diese Erörterung noch weiterführen und es würden immer mehr und mehr Fragen aufgeworfen werden. Jede weitere „Variante“ hätte wiederum gute und schlechte Seiten. Als wichtig empfinde ich, dass für jede alternative Umsetzung, wenn es um die Lösung eines frühzeitigen Alterns von Produkten geht, die jeweilige Variante zur Diskussion stehen muss. Kompostierbar ist meiner Meinung nach sicherlich nicht in jeder Anwendung sinnvoll, wenn man sich die Folgen des Mindsets vorstellt, dass es okay ist Gebrauchsgegenstände wegwerfen zu dürfen. Victor Papanek meint in „Design fort the real world“, dass, wenn wir wegwerfen, sich unsere Beziehung zu den Objekten verändert und sich Benutzer und die Industrie immer noch nicht dazu entschieden haben, was man wegwerfen sollte und was nicht. [PAP S.110, vom Autor selbst übersetzt] Hier sei angemerkt, dass die mir vorliegende Ausgabe aus 1985 stammt. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass es immernoch nicht entschieden ist. Es bestehen immernoch rein profitorientierte Firmen, wozu ich J.E. Schum ebenfalls zählen würde und sie es auch nicht verheimlichen, dass sie am „Umsatz machen“ interessiert sind (Quelle: https://schum.de/de/, Zugriff am 03.05.2022 um 13:20 Uhr). In „Cradle to Cradle“ [C2C S.84-85, vom Autor selbst übersetzt] findet sich das Beispiel, dass ein Händler immer auch im Ausland seine umweltschädlichen aber eben günstigeren Waren bekommt, wenn er beispielsweise durch gesetzliche Regelungen im eigenen Land eingeschränkter in der Auswahl ist – eben auch wenn es nachhaltigere aber eben teurere Alternativen gäbe. Und all das nur, um den Preis niedrig halten zu können und mehr zu verdienen.

Im Alltag, oder in der Werbung wird einem ja manchmal geraten, dass man doch als VerbraucherIn selbst anfangen muss nachhaltigere Entscheidungen zu treffen, dass sich etwas ändert. Ich finde es falsch in diesem Kontext die Verantwortung auf die VerbraucherInnen zu übertragen. Wie einfach wäre es, wenn es nur Produkte geben würde, die verantwortungsbewusst mit unserer Umwelt und schwindenden Ressourcen umgehen? Niemand müsste sich mehr Gedanken machen. Beispielsweise sollte man wohl am besten, wenn man meiner Argumentation folgt, aufhören diesen Geldbeutel zu kaufen, da ich finde, dass es diesen Geldbeutel in seiner jetzigen Form so nicht geben darf. Andere Menschen jedoch sind auf finanzieller Ebene abhängiger von Discountern wie bspw. dem Euroshop. Die Verantwortung liegt meiner Meinung nach an den Designern, den Planern, den Industriellen und Mitarbeitern, wie bspw. bei J.E. Schum, die wohl auf Messen gehen und rein verkaufsfähige Produkte jagen und in Massen einkaufen und wieder verkaufen.

Im Buch Cradle to Cradle wird angesprochen, dass eine schrittweise Verbesserung eines Produktes bspw. hinsichtlich nachhaltigeren Materialeinsätzen einen Paradigmenwechsel anzeigt. [C2C S. 216-218, vom Autor selbst übersetzt] Es scheint eine Einstellungssache zu sein, sich zu entscheiden wie man effektiv produzieren möchte und nicht nur effizient könnte. Sie Verneinen das „ökonomische Paradigma“ [C2C S. 190, vom Autor selbst übersetzt] des „weniger schlecht“ im Sinne von „vermindern, vermeiden, minimieren, reduzieren, begrenzen“ [C2C S. 69, vom Autor selbst übersetzt]

Victor Papanek macht 3 Unterscheidungen des Veraltens von Produkten. Zweiteres und Letzteres trifft wohl auf den Geldbeutel zu:

„Die Industrie entsprach nur allzu gerne den Wünschen einer Öffentlichkeit, die alles, das neu und anders war, bereitwillig aufnahm. Die Mésalliance aus Technologie und künstlich angefachter Nachfrage – aus einer Laune des Augenblicks heraus – führte zur unheilvollen Zwillingsgeburt von Styling und Obsoleszenz. Es gibt drei Formen des Veraltens: das Veralten der Technik (eine bessere oder elegantere Methode wird entdeckt); das Veralten des Materials (das Produkt ist abgenutzt) oder das künstliche Veralten (das Produkt trägt seinen Tod in sich; entweder ist es aus Substandardmaterialien, die in absehbarer Zeit abgenutzt sind, oder wesentliche Teile sind nicht austauschbar oder reparierbar).“ [PAP S. 47, vom Autor selbst übersetzt]

Folgend ein Gedankenexperiment: Wenn ich einem Produkt ansehen würde, oder anders gesagt: Wenn mir das Produkt/die Marke kommunizieren würde, dass das vorliegende Produkt zu einem bestimmten Datum kaputt gehen würde, würde ich es dann kaufen? Und wie müsste dieses Produkt aussehen? Es könnte authentisch und offen kommunizieren, wie es hergestellt wurde und wie es zu entsorgen wäre. Z.B. könnte man sagen: „Du zahlst hier nur 1 Euro für diesen Geldbeutel, aber er wird auch bereits nach 3 Monaten nicht mehr zu gebrauchen sein, da wir an Position X und Y gespart haben, um den Preis realisieren zu können und sicher auch selbst noch daran verdienen wollten.“ Wäre das eine realistische Alternative? Dürfte es diesen Geldbeutel geben, wenn eine einfache Demontierbarkeit und Recyclingfähigkeit gewährleistet wäre? Hier entsteht doch aber auch nur Müll, außer dieser wird in einen technischen Kreislauf zurückgeführt und wieder verwendet, z.B. durch Einschmelzen oder einer sonstigen Aufbereitung zur Wiederverwendung. Ein Produkt aus einem einzigen Material klingt schon besser, wobei es auch dann darauf ankommt welches Material es ist und ob es in die Natur oder in einen technischen Kreislauf zurückgeführt wird. Man spart sich die Zeit des Recycelns, erzeugt aber auch nur Müll!

Ich möchte hervorheben, dass der Geldbeutel hier zwar direkt adressiert und darüber reflektiert wird. Die Erkenntnisse aus dieser Reflexion helfen mir jedoch ebenfalls dabei, mir eine generelle Meinung bezüglich im Kreislauf gedachten Produkten und Kontexten zu bilden. Abstrakter betrachtet besitzt der Geldbeutel, unabhängig davon, dass es ein Geldbeutel ist, einige Eigenschaften, die man auch in anderen Produkten wiederfindet – wie bspw., dass die Verarbeitung an sich nicht niederkomplex ist, da er aus vielen Einzelteilen besteht und aus dem Material Kunststoff. Diese Eigenschaften finden wir bei vielen anderen Produkten, wie bspw. Rucksäcken, aber auch einfach nur andere Produkte aus Kunststoff. Allein nur diese beiden Eigenschaften machen es bereits zu einem komplexen System mit guten sowie schlechten Folgen.

Wo kann es nun mit dem Geldbeutel hingehen? Entweder die Überarbeitung und das Redesign mit hochwertigen Materialien und besserer Verarbeitung, sowie das Verbot von sich schnell abnutzenden Komponenten wie der billige Klettverschluss. Was wollen wir? Reparierbare Produkte, lebenslang haltbare Produkte, digitale Produkte? Was ist die Zukunft dieser Art von industrieller Massenproduktion, die Gebrauchsgegenstände produziert und verkauft, die so lange benutzbar sind wie eine Einkaufstüte aus Plastik?

Die theoretische und reflexive Auseinandersetzung mit Themen zur Kreislaufwirtschaft, Wegwerfgesellschaft, künstlicher Obsoleszenz und der Absurdität, dass es diesen Geldbeutel gibt, der für den Müll gestaltet ist, führte mich zu keiner einen richtigen Antwort auf diese Probleme.

 

Sources

[PAP] Victor Papanek, in: Florian Pumhösl, Thomas Geisler, Martina Fineder, Gerald Bast (Hg.), „Victor Papanek, Design für die reale Welt, Anleitungen für eine humane Ökologie und sozialen Wandel“, Wien: Springer-Verlag 2009.

[C2C] Michael Braungart und William McDonough, Cradle to Cradle – einfach intelligent produzieren, München: Piper Verlag GmbH 2021.